Einführungsrede Dr. Frank Piontek - Gudrun Schülers See/len-Landschaften 2004

Einführungsrede Dr. Frank Piontek  -  Ausstellung Dürerhof Bayreuth 2004

Gudrun Schülers See/len-Landschaften

 

Als Christoph Schlingensief in diesem Sommer daranging, den Parsifal zu inszenieren, konnte man sich auch daran erinnern, daß er im Sommer 2000 eine spektakuläre Kunst-Aktion vor der Wiener Staatsoper veranstaltete.
Echte Asylbewerber spielten seinerzeit falsche Asylbewerber, die in einem der TV-Show Big Brother nachgestalteten Container saßen.
Teil des Spektakels war auch ein Schauspieler, der als Schlingensief-Double auftrat. Warum ich Ihnen das heute Abend erzähle?
Aufgrund einiger Sätze, die dieser Schauspieler ins Megaphon sprach, und die mich, als ich sie vor ein paar Tagen las, auf merkwürdige Weise auf die Ausstellung verwiesen, die heute Abend eröffnet wird.

Herr Wagner aber – der junge Mann hieß wirklich so – Herr Wagner aber sagte im furchtbar heißen Sommer 2000 folgendes:

„Ich bin daran interessiert, daß eine neue Form entsteht, die über das Private hinausgeht. Eine Freiheitsform der Gesellschaft im Ganzen.
Und ich frage mich, wie diese neue Form entstehen kann. Sie kann, glaube ich, nur entstehen, im einzelnen Ich des Menschen.
Und dieses Ich muss überhaupt erst einmal erreicht werden. Denn eine neue Form kann nicht auf Vorstellungen basieren, die aus der Vergangenheit stammen.
Vergangene Vorstellungen werden keine neue Form hervor¬bringen.“

Und dann zitierte Wagner einige berühmte Zeilen Arthur Schnitzlers: „Es fließen ineinander Traum und Wachen / Wahrheit und Lüge. Sicherheit ist nirgends.
 / Wir wissen nichts voneinander, wir wissen nichts von uns. / Wir spielen immer, wer es weiß, ist klug.“

Wir können diese Sätze – in vollem Kontrast wie in voller Aneignung – durchaus auf das Werk Gudrun Schülers beziehen, die in einer schlichtweg faszinierenden Weise auf der Suche nach diesem „Ich“ ist
– und wir können uns an ein zweites Zitat Arthur Schnitzlers erinnern, das mir sofort, wie automatisch kam, als ich vor ein paar Tagen über die Bilder dieser unverwechselbaren Malerin nachzudenken begann
 – doch zunächst zu jenem Verhältnis von Privatheit, „Ich“ und Neuer Form.

Wer in die Bilder Gudrun Schülers hineinsieht, in die Wolkenlandschaften, die Inselflächen, der darf sich natürlich an jene Vergangenheit(en), jene „vergangenen Vorstellungen“ erinnern,
die angeblich überwunden werden sollen, will man zum Neuen gelangen.

Gudrun Schülers Bilder sind der betörendste Beweis dafür, daß das Eine durchaus mit dem Anderen harmoniert, das das Alte im Neuen wie selbstverständlich seinen Platz haben kann,
daß die Tradition nichts ist, was krampfhaft abgestreift werden muß, um im Heute anzukommen.
Es funktioniert freilich nur, wenn das, was man kaufmännisch als Qualität bezeichnen müßte, keinesfalls fehlt.

Ohne jenes wie intuitiv beherrschte Handwerk, ohne jenes scheinbar schwereloses Gleiten durch die Technik
– und ähnelt der Blick in diese Bilder nicht auch einem Gleiten durch die Landschaften -, ohne jene Beherrschung der Technik, die nur deshalb unerkannt wird,
weil sie vollkommen ist, ohne jene Technik also hätten wir nicht mehr vor uns als die widerholteste Wiederaufnahme bekannter Bilder.

Schlingensief sprach übrigens in Zusammenhang mit seinem Parsifal von den Vorbelichtungen, den Bildern, die immer schon da waren.
Auch Gudrun Schülers Bilder waren vielleicht immer schon da, aber sie waren noch nie in dieser Gestalt da, mag uns auch der Traum der Romantik närrisch von dieser Idee abziehen.

Wer in Gudrun Schülers Bilder hineingezogen wird, verschwindet fast in ihnen, als seien ihm, wie es bei Kleist heißt – er muß, pardon, hier einfach zitiert werden – die Augenlider weggeschnitten.
Kleists berühmter Aufsatz heißt nun, sehr passenderweise, „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft“, und nicht könnte schon deshalb passender sein,
weil zwischen der See, der Seh- und der Seelenlandschaft mehr vermittelt als drei oder vier kleine Buchstaben.
Auch das ist ja naheliegend: die ganzen Bilder Gudrun Schülers als gemalte Abbilder einer inneren „Seelenlandschaft“ zu deuten.

An dieser Stelle kann ich nun den zweiten Satz von Arthur Schnitzler einschalten, der hier passt wie kaum ein zweiter:
Im wunderbaren Stück Das weite Land philosophiert der Direktor des Hotels, das im Gebirge steht, über den Menschen:
„Die Seele ist ein weites Land, wie ein Dichter es einmal ausdrückte“. Und er fügt ironisch an: „Es kann aber auch ein Hoteldirektor gewesen sein.“
Wie auch immer: Die Seele ist zweifellos ein weites Land, und ein See ist hier kein See und doch dasselbe und doch viel mehr, eine Gebirgslandschaft ist hier inwendig wie auswendig Gebirge und Seelenlandschaft
– doch wer mit diesem arg mißbrauchten Begriff nur den Dilettantismus einer verschwommenen Bildwelt und einer defizitären Technik verbindet, könnte durch diese Bilder eines Besseren belehrt werden.
Wo der Begriff sonst nur dazu taugt, unklare Motive – nicht – zu erklären, liegt die Stärke dieser Seelenlandschaften in der absoluten Klarheit.
Ihr eignet jedoch – Sie sehen, daß man bei Gudrun Schüler immerzu über mehrere Ecken zueinander kommen kann –, ihr eignet jedoch nichts Konstruiertes, nichts Kaltes.

Worte reichen da nicht mehr hin, um den sogenannten Inhalt und den Reiz dieser Bilder zu beschreiben.
Im Grunde stehe ich hier mit meinen Satzgebilden auf vollkommen verlorenem Posten, da doch die Hauptsachen an den Wänden hängen.
Ich müßte Sie, wäre ich wirklich ehrlich, vor jedes einzelne dieser Bilder, dieser Seh-Stücke zerren und rufen „Schauen Sie doch hin! Sehen Sie genau hin!!“
- und damit wäre meine Aufgabe als Vorwort-Redner vielleicht besser erfüllt als durch Erklärungen, die das Wesentliche dieser Kunst unmöglich erfassen können.

Darum ist sie ja Kunst – eine Kunst, die meinethalben ohne das, was wir „Deutsche Romantik“ nennen, nicht denkbar wäre und die doch eine Stimmung ausstrahlt, die nur in Hinsicht auf Gudrun Schüler selbst, ihre Persönlichkeit, denkbar ist.

Das Ich, das angeblich noch im Werden ist: hier ist es präsent, und hier ist es quasi öffentlich.
Daß etwas den Anderen berührt, das doch ganz und gar individuell ist, dies ist vielleicht eine der Definitionen von Kunst, die haltbar sind.

Zum Paradoxon der Kunst Gudrun Schülers gehört es auch, daß das Haltbare meist die Darstellung des Vergänglichen ist
- daß alles verschwinden kann und vieles vergänglich ist, die Wolken aber, jene stets sich wandelnden Himmelsgebilde im Gedächtnis haften können  - diese These verbürgen die Ansichten mit Vehemenz.
Wellen, Schatten, Schemen - auch daraus besteht das Wolkentheater der Einsamkeit, denn Gudrun Schülers Wege, "Seestücke" und Landschaften glänzen im Schein der totalen menschlichen Abwesenheit,
"als lebte kein Mensch auf der Erde", wie Samuel Beckett einmal schrieb.
Hier herrscht das Stahlgrau letzter Tage, hier schiebt sich eine düster-blaue Wolkenwand vor einen düsteren Himmel, hier zerfließen die Konturen und alle Sicherheiten, die uns von der "Natur" noch trennen mögen.
Nebel dampfen hoch, ein abgeschattetes Licht dringt durch die Wolken.
Die statische Stille, die sich - nur vereinzelt - zu einem Symbolismus reinsten Wassers auswächst wie im atmosphärisch fein erfassten, so einsamen wie selbstgenügsamen Wald von "Tanz ins Licht":

Was ist sie anderes als der Wille zur Entschleunigung inmitten einer Zeit, die sich das totale Tempo aufs Panier geschrieben hat?
Gudrun Schüler zeigt auch die See, man kann sie sehen, aber sie präsentiert sie in einer sonderbar freien Weise.
Wo das Wasser in Formationen übergeht, die, gewiss nur ganz von fern, an Wolken denken lassen, ist sie auf der Höhe der Kunst, die das Genaue mit dem sogenannten Poetischen verbindet.
Heißt das "Moor" auch "Moor", so ähnelt es einem Sturm, in dem die aufgepeitschten Wellenwogen übereinander schlagen.
Wo Farbverwaschungen eine dunkle Farbinsel im Meer entstehen lassen, entsteht ein Sog, dem sich zu entziehen schwer ist.
Freilich gibt es da schon die Tendenz zur sogenannten Abstraktion, zur Farb-Variation – damit verbunden die Unmöglichkeit, nicht an etwas Gegenständliches zu denken, aber schon als reine Farb-Seh-Bilder haben diese Ansichten eine ungeheure Wirkung.

Und erst das Licht: Die großen Ölbilder sind in einem flirrenden Pastellton gemalt worden, der von innen zu glühen scheint,
denn jedes "Sehstück" hat ein Lichtzentrum, und sei es auch dunkel.
Eine Sonne hat sich hinter den grauen Farbschichten verborgen, dass man still in sich hinein jubeln könnte - und ist doch ganz einfach, ganz zart, wo die Ränder zwischen Himmel und Erde unmerklich verlaufen.

Das Ich ist erreicht, wir können es spüren, fast schmecken. Hier ist eine jener Formen, die, trotz allem Bei-sich-sein, über das Private hinausgehen.
Man kann es nicht anders ausdrücken als mit einem einfachen, altmodischen Wort: Meisterschaft.

6.10.2004

Dr. Frank Piontek

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