Einführungsrede Dr. Matthias Liebel, Produzentengalerie Burgkunstadt 2018

Einführungsrede zur Ausstellungseröffnung „Zwischen Energie und Materie“ mit Gemälden von Gudrun Schüler 

Produzentengalerie Burgkunstadt, 10.11.2018



Bilder von der sichtbaren Wirklichkeit. Gegenständliche Malerei, die uns auf Anhieb zu erkennen gibt, was dargestellt ist: ein Waldweg, Spiegelungen auf der Oberfläche eines Gewässers, Wolkenformationen. Naturgetreue Wiedergabe, fotografisch genau, Realismus, Naturalismus, Fotorealismus.


Doch was ist das eigentlich: sichtbare Wirklichkeit? Ist das, was wir sehen, tatsächlich so, wie wir es sehen? Wie stofflich ist Wasser eigentlich, wie greifbar (also im haptischen Sinn)? Und wie stofflich sind Wolken? Je näher wir an die Gemälde von Gudrun Schüler herantreten, und je mehr Bilder wir von dieser Ausnahmekünstlerin zu sehen bekommen, desto drängender stellen sich uns solche Fragen.

(...)

Was wir in der heutigen Ausstellung zu sehen bekommen, gibt uns einen Einblick in das bildnerische Schaffen von Gudrun Schüler und in ihre bevorzugten Motive. Zu diesen Motiven gehören Darstellungen aus den Bereichen Landschaft und Botanik, Wasser und Wasseroberflächen, Wolken und Atmosphäre sowie, gewissermaßen als Übergang und vielleicht anfangs sehr zu unserer Überraschung: abstrakte Arbeiten – genauer gesagt „vermeintlich abstrakte Arbeiten“, wie ich gleich aufzuzeigen versuche.


Auf den Gemälden von Gudrun Schüler, die sie in Öl auf Leinwand ausführt, geht es über das augenscheinliche Bildmotiv hinaus fast immer zugleich auch um atmosphärische Stimmungen, um Licht, Lichtbrechungen und um Spiegelungen. Das Gemälde „Bach“ beispielsweise zeigt die amorphen Formen-  und die bunten Farbenspiele auf der Oberfläche eines durch Fließgeschwindigkeit und leichte Wellen sanft bewegten Gewässers. Auf dem Gemälde „Splash“ sehen wir, beinahe zum Greifen nah, die explodierende Fontäne eines ins Wasser geworfenen Steines. Das Diptychon, also auf zwei Leinwänden ausgeführte Gemälde „Woge“ zeigt eine sich brechende Welle des Nordmeeres mit emporspritzenden Wassertropfen und einem grünlichen Schimmer wie er solchen Brandungen zu eigen ist, deren sandiger Grund durch die peitschende Woge aufgewirbelt wird. Das ist fein beobachtet und zeugt von einem tiefen Verständnis für die physikalischen Abläufe an den Gestaden des Meeres – gibt zugleich aber auch trefflich jene atmosphärische Stimmung wieder, die uns auf unseren Wanderungen entlang eines Seeufers so sehr fasziniert. Beinahe glauben wir vor diesen Bildern, das Rauschen der Wogen zu hören, das dumpfe Platschen, wenn wir einen Stein ins Wasser werfen oder das leise Murmeln der sanft bewegten Gewässer eines Sees oder eines Baches.


Besonders eindrucksvoll begegnen wir der gestalterischen Umsetzung von Licht und Atmosphäre auf dem großen Gemälde „Lichtflut“, das eine imposante Himmelserscheinung über der flachen Ebene des Nordmeeres wiedergibt. Ganze fünf Sechstel dieses Bildes werden von einer über dem tief gelegenen Horizont großflächig sich ausbreitenden diesigen Wolkenwand eingenommen, durch die sich Sonnenstrahlen mystisch und verheißungsvoll, fast möchte man meinen „friedenstiftend“ vom Himmel herab auf die Erde ihren Weg bahnen.


Ein wenig erinnert uns diese Szene an die Lichtstimmungen auf den Gemälden von William Turner, jenes englischen Malers der Romantik, dessen Meeres- und Flußlandschaften mit ihren ausgedehnten Wolken- und Nebelfeldern heute gerne als Vorläufer der abstrakten Kunst des 20. Jahrhunderts angesehen werden – für die Nebellandschaften eines frühen Piet Mondrian beispielsweise, für die diesigen Farbfeld-Malereien von Mark Rothko oder für die Kissenbilder von Gotthard Graubner usw. In der Tat begibt sich auch Gudrun Schüler mit ihren Gemälden auf eine Gratwanderung zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion – nicht nur auf der zuletzt genannten Darstellung „Lichtflut“. Für nahezu sämtliche hier gezeigten Werke gilt: Sie alle tragen immer zugleich auch abstrakte Elemente in sich. Je näher wir an die Bilder herantreten, desto mehr beginnen sie sich mit ihrer Pinselführung bewegungsrhythmisch zu verselbständigen und den vormals naturalistisch gesehenen Bildgegenstand förmlich aufzulösen. Erst wenn wir unseren Abstand zum Gemälde wieder etwas vergrößern, verdichten sich die einzelnen Pinsellinien und Farbspuren wieder zu ihrem motivischen Ganzen – und dies in frappierend detailgenauem Naturalismus: einer wirklichkeitsgetreuen Gegenständlichkeit, wie wir sie sonst nur aus der Malerei des Fotorealismus kennen.

Das gilt für die hier gezeigten „Wasser-Bilder“ nicht anders als für die ebenfalls in diesem Raum zu sehenden Wolkenbilder oder die im Eingangsbereich gezeigten Arbeiten aus den Themengebieten „Botanik“ und „Reflexionen“, wenn Sie sich beispielsweise an die Gemälde „Spiegelung Orange“ oder „Nuage gris“ erinnern, wo die farbformgestalterische Auflösung des natürlich geschauten Bildgegenstandes, nicht zuletzt aufgrund der nahansichtig gesehenen und motivisch eng gefassten Ausschnitthaftigkeit der realweltlich gesehenen Szene, noch weiter getrieben wird als auf den Wasser- oder Wolkenbildern.


Diese, gewissermaßen durch einen „höheren Abstraktionsgrad“ charakterisierten Gemälde bilden einen fließenden Übergang zu den schließlich im hinteren Raum gezeigten abstrakten Arbeiten der Künstlerin, die allerdings, wenn wir uns einmal in die Bildwelten der Gemälde von Gudrun Schüler eingelesen haben, jetzt gar nicht mehr so „abstrakt“ erscheinen. Die Arbeiten mit dem Titel „Wolkenraum“ beispielsweise haben sehr wohl gegenständliche Motivzusammenhänge, gehen sie doch auf die Beobachtung eines bewölkten Himmels zurück, der durch einen am Boden abgestellten Spiegel gesehen wurde. Meteorologische Wirklichkeit und artifizielle Wirklichkeit (nämlich der eng gefasste Ausschnitt einer durch Menschenhand errichteten Architektur und eines industriell gefertigten Spiegels) treffen antipodisch, man könnte auch sagen „antagonistisch“ aufeinander und verschwistern sich auf dem Bildgeviert zu einem motivisch wie kompositionsästhetisch in sich stimmigen harmonischen Ganzen.


Ähnlich verhält es sich auch auf den Gemälden „Mondschiff“ oder „Licht orange“, deren realwirkliche Motivzusammenhänge uns in ihres Details auf Anhieb vielleicht zunächst etwas unklar erscheinen, bei denen wir aber nach genauerem Hinsehen dann doch ziemlich rasch begreifen, dass es sich auch hierbei um spiegel- oder glasscheibenbegründete szenische Brechungen eines motivisch jetzt wieder sehr eng gefassten, daher fast wie monochrome Farbfeldmalereien erscheinenden, tatsächlich jedoch sehr wohl gleichermaßen realweltlich geschauten Ausschnitt der sichtbaren Wirklichkeit handelt – transponiert diesmal, vergleichbar dem vierteiligen Gemälde „Strömungen“, in ein irisierendes, beinahe blendendes Spiel aus Farben und Formen.


Wir sehen, meine sehr geehrten Damen und Herren, wie eng Gegenständlichkeit und Abstraktion beieinander liegen können, wenn man einmal verstanden hat, daß beide Positionen keine bildgestalterischen Gegensätze sind, sondern nicht mehr und nicht weniger als unterschiedliche wahrnehmungspsychologische Dispositionen: Wir, die Betrachter sind es, die einem Farbklecks oder einem Pinselhieb seine motivische Bedeutung zuschreiben. Und vor uns ist es der Künstler oder war es die Künstlerin, die den motivisch gesehenen Bildgegenstand bald mehr, bald weniger stark in abstrakte formfarbliche Gebilde transponierte.


Ich habe selten eine Malerin gesehen, deren Œuvre sich, inhaltlich wie gestalterisch, so logisch und so systematisch zu einem kohärenten Ganzen fügt und wünsche Ihnen nun, meine sehr geehrten Damen und Herren, eine spannende Begegnung mit den hier gezeigten Werken, interessante Gespräche mit der Künstlerin und der Ausstellung einen guten Erfolg.


© Dr. Matthias Liebel (Bamberg), Kunsthistoriker

 

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