Einführungsrede Philipp Schramm M.A. - Atmosphären - Gudrun Schüler, Kunstverein Bayreuth 2020

Einführungsrede von Philipp Schramm M.A. Kunsthistoriker

„Atmosphären“ von Gudrun Schüler

zur 102. Kunstkabinett-Ausstellung des Bayreuther Kunstvereins

„Atmosphären“ – unter diesem beziehungsreichen Titel lädt der Kunstverein Bayreuth zu einer Ausstellung mit Werken von Gudrun Schüler. Das altgriechische Kompositum aus den Hauptwörtern atmós, „Dampf“, und sphaira, „Kugel“, beschreibt je nach Anwendungsbereich verschiedene Phänomene. Bezogen auf unseren Planeten, bzw. unser Universum verweist es auf die gasförmigen Hüllen um die Himmelskörper, zum Beispiel die Erdatmosphäre. In der Physik diente es als Einheit für einen Druckzustand und wurde über eine 10 Meter hohe Wassersäule definiert. In der Ästhetik werden das Ambiente, die Stimmung oder Gefühlslagen mit diesem Begriff in Verbindung gebracht.

Die Erkundung von Atmosphären beschäftigt Wissenschaft und Kunst gleichermaßen. Die Geschichte dieser Auseinandersetzung führt zu den Ursprüngen unserer Kultur. Die griechischen Vorsokratiker befassten sich mit den Elementen und ihrer Zusammensetzung. Von besonderem Interesse waren ihnen jene substanziellen Bestandteile, die nicht sichtbar waren und dennoch vorhanden sein mussten. Wie ließen sie sich nachweisen, welche Qualität besaßen sie, wie konnte ihr Zusammenspiel mit sichtbaren Phänomenen erklärt werden?

Das Studium des antiken Autors Lukrez beflügelte in der Renaissance die analytische Phantasie der Humanisten. Poggio Bracciolini hatte 1417 beim Stöbern in einer Klosterbibliothek eine Kopie des verschollen geglaubten Lehrgedichtes „De Rerum Natura“ entdeckt. Für Kunst und Wissenschaft war diese Entdeckung von weitreichenden Folgen: Galileo, Kant und Einstein waren eifrige Studenten der epikureischen Naturlehre des römischen Dichters. Bis heute sind die lateinischen Verse aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert von großer Anziehungskraft, nicht zuletzt, weil sie Poesie und Wissenschaft auf unvergleichliche Weise vereinen.

In einer längeren Passage behandelt Lukrez die Natur der Bilder, der simulacra (De Rerum Natura, Liber IV, 26-109). Demzufolge sendet jedes Objekt ständig eine schnelle Folge von unvorstellbar dünnen atomaren Schichten von seiner Oberfläche. Diese bewegen sich mit großer Geschwindigkeit durch die Luft und bewahren die Form des Objekts, aus dem sie kommen. In rascher Folge emittiert, ermöglichen sie erst den Eindruck des Sehens. Der gesamte Kosmos ist voll von diesen herumfliegenden Bildern, die nur darauf harren, auf ein interpretierendes Auge zu treffen.

Für diese Emissionen der gegenständlichen Welt wählte Lukrez zunächst sichtbare Beispiele, darunter den Rauch und den Dampf. Hier wären wir wieder bei der griechischen Atmosphäre angelangt, die sich ja gleichfalls auf den Dampf bezieht. Die materiellen Qualitäten von Farbe und Abbild sind nach dieser Theorie so fein, dass sie von Luftatomen nicht zerteilt werden können. Prinzipiell wären die simulacra auch nicht wahrnehmbar: „Einzeln jedoch und getrennt sind solche dem Auge nicht sichtbar“ (DRN IV, 88). Aber unsere Augen sind gleichsam geschult, die Phänomene der simulacra auf der Netzhaut aufzunehmen und zu Bildern zusammenzufügen. Um die Tiefe seines Theorems zu verdeutlichen, verwendet Lukrez eine Reihe synonymer Begriffe, unter denen einige die lateinische Umschreibung dessen bezeichnen, was wir unter dem Begriffspaar „Bild – Abbild“ verstehen: imagines, effigiae, formae, figurae, … .

Solchen Abbildern begegnen wir in den Arbeiten von Gudrun Schüler im Kunstkabinett des Bayreuther Kunstvereins. Gudrun Schüler hat uns einen kleinen Parcours durch ihren Bilderkosmos gestaltet. Einen elementaren Bezug wählt sie im Ölgemälde „Große Blaue Kaskade“: Ein Schwarz, das Blau sein kann; ein flirrendes Weiß, das sich im dunklen Grund verliert. Mit zarten Tuschestrichen wird der „Wolkentanz“ auf Bütten gebannt, eine lyrisch verspielte Allegorie auf den Ausstellungstitel. In drei blauen Landschaften können die Betrachter sich auf die Spurensuche nach der Natur der Dinge begeben. „Panta rhei“ – das Heraklit-Zitat führt uns bei zwei Großformaten in Öl, die unterschiedlicher nicht sein könnten, zu den Grundbegriffen atomistischer Erkenntnis. Mit wunderbarer Leichtigkeit entschwebt eine luftig gezeichnete „Federwolke“. Wir dürfen die Kinder sein, die im Gras liegend darin den Wunschbildern ihrer Imagination folgen. Und schließlich die schwarze Sonne, „Black Sun“, wie aus einem Vers von Yeates entstiegen. Das Zentrum unseres Universums nicht als strahlender Sonnenwagen, sondern als schwarzer Stern – ein mächtiges Finale.

Wir begegnen in der sinnfällig komponierten und sorgfältig ausponderierten Ausstellung im Alten Barockrathaus den rebus apertis des Lukrez ebenso wie seinen simulacra. Und wir können erleben, was den besonderen Reiz einer poetischen Naturbeobachtung ausmacht. Das ist keine staubige, trockene Materie, die uns hier entwickelt wird. Das ist von jener Essenz, die wir in den Tagen häuslicher Klausur so sehnlich vermissten. Gudrun Schüler schreibt, ihre Arbeit sei von der aktuellen Situation der Pandemie sehr beeinflusst worden. Das gilt in vergleichbarer Weise auch für uns als Kunstbetrachter.

Die Kunst und die Künstler sind vom Lockdown, von den wirtschaftlichen Einschränkungen existenziell betroffen wie kaum eine andere Berufssparte. Die Museen, die Galerien, der künstlerische Austausch – alles ist zum Erliegen gekommen. Die Kabinettausstellung an der Brautgasse führt eindrucksvoll vor Augen, warum das keine dauerhafte Situation bleiben darf. Es sei den Bayreuther_innen herzlichst empfohlen, in der 102. Kabinettausstellung dem kosmischen Wunder der Atmosphären zu begegnen. Wer sich ein Poggio-Erlebnis wünscht, sollte sich auf den Weg machen, um zu erfahren, welch große Wirkung kleinste Teilchen entwickeln können.

Philipp Schramm

Mai 2020

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